Macht-Räume in der DDR. Reichweite und Grenzen sozialistischer Herrschaft

Macht-Räume in der DDR. Reichweite und Grenzen sozialistischer Herrschaft

Organisatoren
Historische Forschungsstelle / Wissenschaftliche Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS)
Ort
Erkner
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2015 - 25.09.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Marlene Heihsel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Daniel Fischer, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden; Alexander Koch, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Die DDR war ein komplexes Herrschafts- und Gesellschaftssystem, dessen Stabilität sich nicht allein aus der Machtstellung des Partei- und Staatsapparates erklären lässt. Die jüngere DDR-Forschung im Bereich der Gesellschafts- und Alltagsgeschichte fokussiert deshalb vermehrt die informellen Legitimationstechniken des Systems. Dennoch darf die Perspektive auf die zentralistisch organisierten, top-down agierenden staatlichen Apparate und die Parteiherrschaft der SED nicht außer Acht gelassen werden. Eben diese beiden Forschungsansätze verknüpfte die von der Historischen Forschungsstelle des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner ausgerichtete Konferenz „Macht-Räume in der DDR“ miteinander. Der Blick auf die Dimension des Raumes von Macht bietet diesbezüglich vielversprechende Ansätze: So kann die Perspektive, die die räumliche Reichweite der Macht in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellt, die Mechanismen staatssozialistischer Herrschaft in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen erfassen. Dabei geraten unter anderem Strategien der Delegierung von Macht im zentralistischen Staatsaufbau, die Durchsetzung des staatlichen Gestaltungsanspruchs von Lebensräumen und demgegenüber eigensinnige Aneignungen durch lokale Akteure im Alltag in den Fokus. Die Konferenz stellte gleichzeitig die Abschlusstagung des DFG-Forschungsprojekts „Die DDR-Bezirke – Akteure zwischen Macht und Ohnmacht“ (Laufzeit 5/2012 – 11/2015) unter der Bearbeitung von Christoph Bernhardt, Oliver Werner und Lena Kuhl von der Historischen Forschungsstelle / Wissenschaftliche Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR des Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) Erkner dar.

Zwei zentrale Untersuchungsfelder des Kongresses bildeten die Bereiche Wirtschaftspolitik/-planung sowie Städte- und Wohnungsbau bzw. Wohnungspolitik. Den Komplex der Wirtschaftspolitik diskutierte ANDREAS MALYCHA (Berlin) mit dem Blick auf die mittlere Leitungsebene der Industrie: Trotz der Erweiterung von Entscheidungsbefugnissen und Mitspracherechten im Rahmen staatlicher Reformversuche Mitte der 1960er-Jahre – so bei Investitionsvorhaben für beispielsweise Vereinigungen Volkseigener Betriebe – blieb deren Machtspielraum jedoch begrenzt. Die Staatliche Plankommission war weiterhin die bestimmende Instanz hinsichtlich aller Strukturentscheidungen. Auch OLIVER WERNER (Erkner) beschäftigte sich mit der Wirtschaftspolitik der 1960er-Jahre. Er hob die Relevanz der Bezirke hervor, die durch gewährte Freiräume vor allem in der Versorgungswirtschaft mittels „Mobilisierung örtlicher Reserven“ – so die zeitgenössische Formulierung der SED-Funktionäre – einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der sozialistischen Wirtschaft und des gesamten DDR-Systems leisteten und zugleich das System teilweise unterliefen. Beide Vorträge betonten dabei die begrenzte Reichweite der eigenständigen Politik der unteren Ebenen in der Wirtschaftsplanung der 1960er-Jahre: Zwar gab es gewisse Freiräume für die Gestaltung im kleineren, lokalen Bereich, die insgesamt zu einer Stabilisierung führten, zentrale Anordnungen blieben jedoch weiterhin maßgebend.

Im Kontext von Städtebau und Wohnungspolitik fällt die Verflechtung zwischen Durchsetzung der Vorgaben von oben und Gestaltung durch regionale Verantwortliche von unten noch stärker ins Auge. LENA KUHL (Erkner) zeichnete nach, wie sich lokale bzw. regionale Entscheidungsträger im zentralistischen System bewegten. Dabei beleuchtete sie anhand der Neubaupolitik in Frankfurt an der Oder, Eisenhüttenstadt und Schwedt die schwierige Situation der Bezirksfunktionäre bei der Umsetzung der zentral vorgegebenen Urbanisierungspolitik. Die Spannung zwischen der erwarteten Eigenverantwortung bzw. erwarteten Problemlösungen auf der einen und den fehlenden Kompetenzen und Legitimationen auf der anderen Seite lösten die lokalen Eliten mit informellen und eigensinnigen Praktiken: Schwarzbau, Netzwerke jenseits der Machthierarchie und Improvisationsgeist ermöglichten die „Mobilisierung örtlicher Reserven“. Dieser Eigen-Sinn unterwanderte zwar das System, trug jedoch gleichsam zu dessen allgemeiner Stabilität bei und wurde deshalb auch geduldet.

Einen weiteren Aspekt der Herrschaftsstabilisierung durch Urbanisierungspolitik griff ELI RUBIN (Kalamazoo, Michigan) am Beispiel der Plattenbausiedlung in Berlin-Marzahn auf: Städtebauliche Großvorhaben wie diese waren der Inbegriff von Fortschritt, Neubeginn und Zusammengehörigkeitsgefühl. Vor allem aber sollten die industriell gefertigten Bauten die Überwindung kapitalistischer Lebensverhältnisse als Gegenstück zu Mietskasernen und prunkvollen Wohngebäuden symbolisieren.

Gingen Kuhl und Rubin eher auf den Blickwinkel der mittleren und oberen Leitungsebene in der Wohnungspolitik ein, so nahm UDO GRASHOFF (London) in seinem Vortrag zu illegalem Wohnen in staatlich geräumten Altbauten die Perspektive von unten ein. An einem Fallbeispiel aus Halle an der Saale zeigte er eindrücklich, wie die chronische Wohnungsnot den Staat dazu zwang, häufig zugunsten der Hausbesetzer zu entscheiden. Grashoff betonte dabei die Ambivalenz, die aus dieser informellen Lösung der Wohnungsproblematik entstand: Einerseits wurde durch die Duldung des Eigen-Sinns der „Schwarzwohner“ das Versagen des Regimes als kontrollierende Herrschaftsinstanz deutlich; auf der anderen Seite wurde das System durch die privat organisierte Problemlösung mittelfristig stabilisiert.

Wie ein roter Faden zog sich ein Paradigma durch die Panels der Tagung, welches von THOMAS LINDENBERGER (Potsdam) in der Keynote des ersten Konferenztages ausführlich dargelegt worden war: Das Konzept vom Eigen-Sinn als historische Kategorie der DDR-Gesellschaft ermöglicht den Blick auf selbst geschaffene Freiräume, Aneignungen und – im weitesten Sinne – zivilgesellschaftliche Ansätze im von der SED dominierten Gesellschaftssystem.

Ein sehr wichtiges Beispiel für erfolgreiches eigensinniges Operieren im System der Anleitung und Kontrolle der DDR brachte THOMAS SCHAARSCHMIDT (Potsdam) mit seinem Vortrag über den Kulturbund ins Gespräch. Dieses Auffangbecken für die kulturelle Vereinsarbeit ließ sich auch durch viele Versuche der Re-Organisation und ideologischen Umdeutung schwer kontrollieren und bot bis zum Ende der DDR Zuflucht und Spielräume für unterschiedlichste Gruppen. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern Vereine bzw. deren Fortsatz im Kulturbund als Keimzellen ostdeutscher Zivilgesellschaft gesehen werden könnten.

Auch FLORIAN LIPP (Berlin / Hamburg) beschäftigte sich mit Eigen-Sinn im kulturellen Bereich. Am Beispiel der Zulassung einer Punk-Musikgruppe machte er einen gewissen Machtverlust des Staates im Bereich der Veranstaltungs- und Einstufungspraxis der sogenannten „Amateurtanzmusik“ aus. Zwar sollten die Einstufungskommissionen eine disziplinierende Funktion nach vermeintlich objektiven Bewertungsmaßstäben ausüben – diese Funktion wurde jedoch seit den 1970er-Jahren durch die Ausdifferenzierung der Musikrichtungen konterkariert. Dies führte in der operativen Praxis zu einem enormen Verwaltungsaufwand seitens des Staatssicherheitsdienstes sowie innerhalb der Kommissionen, die zum Teil mit professionellen und parteilich nicht gebundenen Musikern besetzt waren, zu regional unterschiedlichen Liberalisierungstendenzen in der Bewertung. Somit standen hier die Steuerungsansprüche des Staates den tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten gegenüber.

Diese Kollision zwischen Theorie und Praxis, die bereits mehrmals angeklungen ist, führte in der Summe und im Laufe der Zeit zur vollständigen Erosion des Systems, wie ANDREA BAHR (Potsdam) in ihrem Vortrag zur SED-Kreisleitung Brandenburg in den 1980er-Jahren ausführte. Örtliche Organe waren für die SED-Politik bedeutende Schnittstellen, die Engpässe und Probleme mithilfe von Ortskenntnis sowie offiziellen oder erprobten, oben schon genannten inoffiziellen Taktiken lösen konnten und somit für Akzeptanz und Stabilität sorgten. Die „Mobilisierung lokaler Reserven“ büßte im Verlauf der 1980er-Jahre jedoch deutlich an Funktionalität ein, da die Kapazitäten der Betriebe, die die Kreisleitung auch aus eigenem Interesse heraus immer wieder unterstützt hatten, allmählich ausgereizt waren. Das Bröckeln des Alltagsmanagements im Krisenjahrzehnt der DDR zog den Vertrauensverlust für die Kreisfunktionäre und deren Tätigkeit nach sich. Als somit selbst informelle Maßnahmen nicht mehr griffen, wirkte das Verharren in alten Strukturen bzw. das Unvermögen, neue Herausforderungen flexibel anzugehen, besonders destruktiv.

Einen anderen Zugriff wählten EMMANUEL DROIT (Berlin) und TIZIANA URBANO (Leipzig) sowie THOMAS ETZEMÜLLER (Oldenburg / Berlin). Sie untersuchten das Thema aus einem eher soziologischen Blickwinkel. Droit und Urbano wendeten das Raumkonzept Henri Lefebvres auf die Innengestaltung von Schulen (Droit) bzw. die Gestaltung der sozialistischen Planstadt (Urbano) an, um das Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Monopol der SED und Eigen-Sinnen der Gesellschaft hervorzuheben. Urbano zog darüber hinaus literarische und filmische Quellen zur Verdeutlichung des Herrschaftsdiskurses in der Stadtentwicklungspolitik heran. Etzemüller beschäftigte sich in seiner Keynote mit dem Komplex des Social Engineering und dessen Möglichkeiten in der Anwendung auf die DDR. Mit international vergleichendem Blick untersuchte er das Beispiel der Stadt Brasilia, wo sich die Chancen des Social Engineering als historisches Analysewerkzeug anhand dortiger sozialer Wohnungsbauprojekte aufzeigen ließen.

Die internationale Vergleichsperspektive erweiterte MÁRKUS KELLER (Berlin) in seinem Vortrag, der sich mit sozialistischem Wohnen und dem damit verbundenen Eigen-Sinn der Bewohner im Ungarn der Nachkriegszeit beschäftigte. Trotz weitreichender Typenpläne wurden dort statt der vom Staat präferierten Mehrfamilienhäuser im Stil der architektonischen Moderne insbesondere in dörflichen Sphären mehr Ein- bis Zweifamilienhäuser gebaut, was dem Wunsch der Bevölkerung entsprach. Vor dem Hintergrund finanzieller Engpässe und mangelndem Durchsetzungsvermögens gegenüber nicht-staatlichen Baufirmen mobilisierte auch hier das Versagen des Regimes lokale Reserven, die der Bevölkerung ihre erwünschten Bauten errichteten und somit für Stabilität sorgten.

Die Betrachtung unterschiedlicher Ebenen, d. h. der Bezirke, der Kreise, einzelner Akteursgruppen, Vereinigungen und Branchen der DDR hat insbesondere die Ambivalenz zwischen Stabilisierung und Destabilisierung durch Eigen-Sinn und Freiräume sowohl in der Bevölkerung als auch in den unteren Leitungsebenen hervorgehoben. Die durchaus von der SED angestrebte „Mobilisierung der örtlichen Reserven“ durch ständige Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteuren führte – regional und spartenabhängig unterschiedlich ausgeprägt – zunächst zu einer Stabilisierung des Systems, durch wenig Flexibilität und starke Pfadabhängigkeiten schließlich jedoch zur Systemerosion. Immer wieder wurden auch die geringen Reichweiten der lokalen Macht („Glasdecke der Hierarchie“) betont, bedingt durch die unbedingte Durchsetzung der zentralen staatlichen Vorgaben.

In der Abschlussdiskussion der Konferenz standen Fragen nach zivilgesellschaftlichen Elementen in der ostdeutschen Gesellschaft, nach den Einflüssen moderner Werteorientierungen auf die historische Bewertung der DDR sowie Alleinstellungsmerkmale der DDR-Gesellschaft gegenüber anderen sozialistischen und nicht-sozialistischen Staaten zur Debatte. Ferner wurden theoretische Analysekonzepte wie das Raumkonzept Lefebvres oder das Analyseinstrument des Social Engineering kritischer Prüfung unterzogen.

Die Konferenz hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Integration mehrerer Forschungsperspektiven – hier die eher alltagsgeschichtlich ausgerichtete und eine primär auf die Staats- und Parteiapparate orientierte Sicht – ein wichtiges Desiderat der DDR-Forschung bildet. So prägten sozialräumliche Disparitäten und politische bzw. Macht-Asymmetrien nicht nur den „Aufbau des Sozialismus“, sondern spielten auch bei der Erosion sozialistischer Legitimation und Ideologie eine wesentliche Rolle. Der interdisziplinäre Blick und hier in erster Linie der Rückgriff auf soziologische Ansätze hat darüber hinaus weitere wichtige Diskussions- und Anknüpfungspunkte geschaffen.

Konferenzübersicht:

Christoph Bernhardt (Erkner): Begrüßung und Einführung

Keynote

Thomas Lindenberger (Potsdam): Das Land der begrenzten Möglichkeiten. Macht-Räume und Eigen-Sinn der DDR-Gesellschaft

Panel 1: Planung – Ambivalenzen und Grenzen einer Steuerungsvision

Andreas Malycha (Berlin): Dezentralisierungstendenzen in der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in den 1960er-Jahren

Oliver Werner (Erkner): Planungsperspektiven der Bezirke in der DDR

Panel 2: Produktion von Machträumen

Emmanuel Droit (Berlin): Wie Wände politisiert wurden. Strategien der DDR-Erziehungsdiktatur am Beispiel der Inneneinrichtung von Schulen

Philipp Springer (Berlin): Von Agenten, „Asylanten“ und ausländischen Touristen. Der Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße als transnationaler Macht-Raum der DDR

Panel 3: Spielräume in Sport und Kultur

Thomas Schaarschmidt (Potsdam): Spielräume für Eigen-Sinn – Der Kulturbund der DDR

Jan Kleinmanns (Bonn): Sport-Räume. Das Verhältnis von Peripherie und Zentrum in der Sportpresse der DDR

Florian Lipp (Berlin / Hamburg): „Amateurtanzmusik“ – Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Veranstaltungs- und Einstufungspraxis der DDR- Bezirke im Vergleich
- verschoben in Panel 4 –

Panel 4: Zukunftsräume

Tiziana Urbano (Leipzig): Das Leben im Unfertigen. Die sozialistische Planstadt zwischen Projektionen und Usurpationen der Zukunft

Frank Hager (Hagen): Das sozialistische Beispieldorf Mestlin – neue Lebensformen zwischen Überlieferung und Utopie?
- ausgefallen –

Keynote
Thomas Etzemüller (Oldenburg / Berlin): Wie Hase und Igel – Social Engineering, Kontingenz und Eigensinn

Panel 5: Urbanisierung als Herrschaftsstrategie

Lena Kuhl (Erkner): „Eigentlich lag mir die ganze Stadt am Herzen…“. Städte und Regionen in den Händen der sozialistischen Staatsmacht

Eli Rubin (Kalamazoo, Michigan): Amnesiopolis: Macht, Raum und Alltag in Marzahn-Hellersdorf

Panel 6: Wohnen zwischen staatlicher Kontrolle und Aneignung

Udo Grashoff (London): Schwarzwohnen in der DDR. Aushandlungsprozesse in den Abteilungen für Wohnungspolitik

Márkus Keller (Berlin): Grenzen der Macht. Das sozialistische Wohnen und der Eigensinn der Bewohner in Ungarn

Panel 7: Kontraktionen der Macht in den 1980er-Jahren

Christian Rau (Berlin): Kommunalpolitik als Streitpolitik. Ordnungsdebatten in der DDR in den 1970er und 1980er-Jahren (Titel geändert in: Eigenverantwortung im politischen Zentralismus)

Andrea Bahr (Potsdam): Die SED-Kreisleitung Brandenburg in den 1980er-Jahren – Herrschaftspraxis im Zeichen der gesellschaftlichen Krise

Christoph Bernhardt (Erkner): Abschlussdiskussion


Redaktion
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